Musikgeschichte - Gymnasium
Der Begriff "Ars Nova" stammt aus dem Titel eines Traktats, welches dem Musiktheoretiker und Komponisten Phillip de Vitry zugeschrieben wird. Darin wird die Ars Nova (= neue Kunst) abgegrenzt von der Ars antiqua (= alten Kunst), also aller Musik vor ca. 1300, welche vor allem das Organum und ähnliche zeitgenössische Gattungen (frühe Motette etc.) umfasst.
Nach und nach etabliert sich mit der Mehrstimmigkeit auch unsere heutige Namensgebung der vierstimmigen Chorstimmenanlage mit Sopran, Alt, Tenor und Bass: Der Cantus Firmus (gregorianischer Choral) bildet den Tenor (mit Betonung auf dem e ausgesprochen). Die zweite hinzugefügte Stimme, welche zusammen mit dem Tenor das wichtigste Gerüst bildet, ist der höher liegende Discantus (heutiger Sopran). Weitere Stimmen, welche nur als Zusatzstimmen fungieren und keine gleichwertige Funktion wie die anderen beiden Stimmen innehaben, werden Contratenor genannt, weil sie kontrapunktisch zum Tenor als (meist improvisierte) Füll-/Begleitstimme funktionieren. Eine solche Stimme wird Contratenor altus (vgl. heutiger Alt) genannt, wenn sie über der Tenorstimme liegt; resp. Contratenor bassus (vgl. heutiger Bass) genannt, wenn sie unter der Tenorstimme liegt.
Das älteste Satzprinzip nach dem reinen Parallelorganum ist das PIP-Prinzip. Es ist ein kontrapunktisches Prinzip, das heisst, die Satzweise beruht auf einer Hauptstimme (hier Tenor) zu welcher in einer gleichberechtigten Stimme (Discantus oder Organumsstimme) ein bestimmtes Intervall nach festgelegten Regeln gesetzt wird. Kontrapunkt kommt aus dem Latein von "Punctus contra punctum" also "Note gegen Note" (= Intervall).
Das PIP-Prinzip als wichtigste Regel gibt vor, dass eine musikalischen Phrase mit einem perfekten (konsonantes) Intervall (Prim, Oktave, Quinte, später auch Quarte) ein (oder mehrere) imperfekte/s (konsonantes) Intervall/e (Terz, Sexte) folgen sollte/n und wieder mit einem perfekten Intervall geschlossen werden sollte. Dissonante Intervalle (Sekunden, Septimen, Tritonus) sollten höchstens als Übergangsnoten gebraucht oder im Falle des Tritonus strikt vermieden werden. Dazwischen dürfen auch wieder perfekte Konsonanzen eingebaut werden.
Dieses sehr einfache Prinzip legt den Grundstein für alle späteren harmonischen Satzmodelle und Harmonielehren (z.B. Quintfallsequenz, Parallelismus, akkordisches Denken, Stufenharmonik, Funktionsharmonik) und ist deshalb in seiner Bedeutung äusserst wichtig.
Diese Satzweise lässt sich am Beginn der Ballade "Très douce Dame" von Machaut gut veranschaulichen:
Erstellt man nämlich aus den zwei Stimmen einen sogenannten "Gerüstsatz", indem man alle Dissonanzen weglässt und rhythmisch etwas vereinfacht, erhält man den kontrapunktischen Ablauf. So erkennt man nun gut den Start und Schluss auf perfekten Konsonanzen und den Mittelteil bestehend aus imperfekten Konsonanzen (mit eingestreuten perfekten Konsonanzen):
Vor allem in den neuen Gattungen, den mehrstimmigen Motetten und Messvertonungen der Ars Nova, wird die Satztechnik der Isorhythmie angewendet. Bei der Isorhythmie wird eine rhythmische Struktur abschnittsweise wiederholt, wobei die Tonhöhen in der Regel wechseln. Der sich wiederholende rhythmische Strukturteil wird Talea genannt; er entspricht im Normalfall mit der strophischen Form des Textes. Dieses Modell muss nicht immer streng in allen Stimmen durchgehalten werden, es tritt vor allem in den Cantus-Firmus-Stimmen, also meist im Tenor auf. Der dem gegenüberstehende melodische Abschnitt ist der Color (lat. „Farbe, Ton"). In vielen Kompositionen der Ars Nova werden Taleae und Colores nicht deckungsgleich genutzt, sondern die melodischen und rhythmischen Phasen werden gegeneinander verschoben und überlagern sich. Zur Verdeutlichung dient folgendes Beispiel.
Die Motette baut auf der Vorlage "Videns Jacob", also einem gregorianischen Choral auf. Sie verwendet aber nur den Ausschnitt "Fera pessima" (als Box markiert):
Isorhythmische Anlage: Der Tenor setzt sich aus immer wiederkehrenden Bausteinen Color und Talea zusammen:
Nun kann man also Talea und Color als wiederholende Patterns zusammensetzen und erhält daraus eine mögliche Tenorstimme:
Der Color besteht aus 12 Tönen. Die Talea besteht aus 8 rhythmischen Positionen, welche mit Tonhöhen belegt werden können (also Noten und keine Pausen). Nach dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen 24 stimmen nach 3 Taleae und 2 Colores beide Strukturen wieder überein. Die Motette muss demnach aus einer geraden Zahl an Durchläufen des Colors bestehen. Im Falle der Motette Nr. 9 lässt Machaut den Color sechs Mal durchlaufen, was 9 Taleae entspricht. Machaut hat sich bei dieser Motette zusätzlich dazu entschieden, den Color um einen Ton nach hinten zu schieben:
In jeder Stimme wird ein anderer Text gesungen, und im Zusammenklang und mit Verständnis der Anspielungen (es wird in zeitgenössischen Traktaten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Art von Musik für den gebildeten Klerus bestimmt sei) wird aus den drei Texten eine gemeinsame Aussage kreiert, welche vordergründig Edward III. hinterrückses Handeln vorwirft und ihn hintergründig (nämlich nur, wenn man "Videns Jacob" kennt!) gar mit Satan vergleicht:
Die Mensuralnotation entwickelte sich im 13. Jahrhundert, vorangetrieben durch die Differenzierung der Rhythmen. Franco von Köln formulierte um 1280 die Regeln für diese Notationsweise in seinem Traktat Ars cantus mensurabilis. Mithilfe der schwarzen Mensuralnotation konnten erstmals die Zeichen der Notenwerte (Tondauern) fast eindeutig zugeordnet werden.
Die wichtigsten Notenzeichen waren Brevis ("die Kurze") und Longa ("die Lange"). Gemäss dem dreiteiligen Grundrhythmus der Zeit hat die Longa die Dauer von drei Breven (perfekte Longa). Innerhalb bestimmter Gruppierungen von Noten kann sie auch zwei Breven dauern (sog. "Imperfizieren"), so zum Beispiel in der Folge Longa – Brevis – Longa – Brevis... , in der jeweils aus imperfekter Longa (2 Schläge) und Brevis (1 Schlag) eine dreizeitige Einheit wird. Auch eine Verlängerung (sog. "Alterieren") in zwei- oder dreimal so lange Notenwerte ist nötig, wenn gewisse Passagen eine perfekte dreizeitige Dauer erfordern. Von diesen zwei Regeln können auch die kleineren Notenwerte betroffen sein. Die folgende Abbildung zeigt alle Notenwerte der frankonischen Notation, beginnend mit dem Grössten:
Am Anfang des 14. Jahrhunderts trat in der Ars Nova neben die perfekte Mensur, also den dreiteiligen Metrum, die imperfekte Mensur, also das zweiteilige Metrum. Nun galt es also für die Aufführung eines Werkes zunächst folgende Masse zu bestimmen:
Da in der Ars Nova als nächst kleinerer Notenwert die Minima hinzutrat, musste nun auch die Länge der Semibreves bestimmt werden.
Während Modus major und Modus minor über die Anordnung der Pausenzeichen erschlossen werden konnten, konnten Tempus und Prolatio an den dem Stück vorangestellten Mensurzeichen erkannt werden. Ein Kreis (als Symbol der „Vollkommenheit“) zeigte perfekte, also dreizeitige, Mensur der Brevis an (Tempus perfectum), der Halbkreis die imperfekte, also zweizeitige Mensur der Brevis (Tempus imperfectum). War in den Kreis bzw. Halbkreis zusätzlich ein Punkt gezeichnet, galt die Semibrevis als perfekt (Prolatio major). Bei Weglassen des Punktes trat die imperfekte Mensur der Semibrevis in Kraft (Prolatio minor). Aus dem Halbkreis leitet sich das heutige Taktzeichen für den 4/4- und Alla-breve-Takt ab.
Hier sieht man eine in Mensuralnotation verfasste Manuskriptseite der oben behandelten isorhythmischen Motette von Machaut (hier ohne Mensurzeichen; Tempus und Prolatio müssen aus dem Kontext erschlossen werden):
Sehr wichtig bezogen auf den musikalischen Formaufbau künftiger Musik, sind die Chansons der Ars Nova, welche gemäss den sogenannten Formes fixes verfasst wurden: Rondeau, Virelai und Ballade. Dies sind poetische Versgattungen des 14. Und 15. Jahrhunderts in frankophonen Gebieten.
Abläufe dieser neuen Chansons mit Refrain und Strophe (vgl. heutige Popsongs), Kleingliederungen wie die Barform (AAB) oder schlussbildende Formeln wie "ouvert" und "clos" (öffnende Schlusswirkung und schliessende Schlusswirkung), also Vorgänger von Vorder- und Nachsatz (vgl. Klassische Formenlehre) bestimmen die Formgebung der Musik der Zukunft massgebend. Bei dieser Musik steht der Text absolut im Vordergrund und die Musik "dient" dem Text. Sogar die Formen zielen darauf ab, den Text besser verständlich zu machen (z.B. durch pointierte Wiederholungen).
Wichtig ist auch hier die Anlage als zweistimmiger Satz (Discantus und Tenor). Die dritte Stimme (Contratenor) ist nicht gleichberechtigt und dient als Füllstimme. Man vermutet, dass solche Stimmen oft improvisiert dazu gesungen wurden. Je nach Quelle/Handschrift sind auch völlig andere Contratenores aufzufinden, wobei der zweistimmige Gerüstsatz meistens gleich überliefert ist. Die Aufführung ist rein vokal, gemischt oder auch rein instrumental denkbar, wobei letzteres am wenigsten wahrscheinlich ist, weil dann die so wichtige Textaussage natürlich wegbleibt.
Man unterscheidet vor allem zwischen diesen drei Formtypen (die genauen Eigenschaften und Formabläufe der drei Formtypen sind nicht Prüfungsrelevant):
In folgendem Beispiel eines Rondeau von einem der wichtigsten Chansonkomponisten und Dichter Guillaume de Machaut, kann man die zwei musikalischen Teile hörend gut erkennen.
In diesem Virelai von Guillaume de Machaut hört man die Formaufteilung mit einem Refrain und Strophen sehr gut. Man höre auch die gut wahrnehmbaren einzigen Versenden auf "-ir" und "-our".
Diese Ballade zeigt die Wirkung des Ouvert (0:20)/Clos (0:40) auf, sowie lässt den Refrainsatz "Tant com je vivray, sans meffaire" am Ende jeder der drei Strophen (1:01, 2:18, 3:36) erkennen.
Hilfsmittel:
Aufgaben:
Moderne Übertragung:
Puisque je suis oublié de vous, douce amie
Je remets à Dieu ma vie amoureuse et ma joie
Malheureux fut le jour où je mis mon amour en vous,
Puisque je suis oublié de vous, douce amie.
Mais je tiendrai ce que je vous ai promis
Jamais je n’aurai d’autre amaint
Puisque je suis oublié de vous, douce amie
Je remets à Dieu ma vie amoureuse et ma joie
Übersetzung:
Da ich von dir vergessen werde, süsser Freund,
übergebe ich mein Leben voller Liebe und Freude an Gott.
Unglücklich war der Tag, an dem ich meine Liebe in dich legte;
Da ich von dir vergessen werde, süsser Freund.
Aber was dir versprochen wurde, werde ich ertragen:
Dass ich nie wieder eine andere Liebe haben werde.
Da ich von dir vergessen werde, süsser Freund,
übergebe ich mein Leben voller Liebe und Freude an Gott.