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Musikgeschichte - Gymnasium

Klassik (ca. 1730-1830) - Formenlehre

Übersicht

Definition Formenlehre

Formen in der Musik ermöglichen eine Gliederung eines Stücks beim Hören. Der Faktor Zeit ist dabei zentral. Zeit ist dabei als Erlebniszeit zu verstehen, die sich mit der messbaren Zeit nur selten deckt (wie wir noch erleben werden). In der Formenlehre wird oft mit geschlossenen, auskomponierten Formen, die für die abendländische Musik ab dem Mittelalter, charakteristisch sind, hantiert, um Gliederungen zu beschreiben.

Während Rhythmik, Melodik, Harmonik und Klanglichkeit auswirkungen auf den Stil von Musik hat, ist die Form nicht zwingend stilentscheidend. Deshalb sind die im Folgenden behandelten Formen auch auf diverse Musikstile (Klassik, Jazz, Pop etc.) anwendbar. Primäre Stilfaktoren sind bereits relativ rasch erkennbar. Form dagegen wird erst in grösseren Zusammenhängen deutlich (z.B. erst wenn man eine Wiederholung eines Teils hört, wird diese als Wiederholung erkennbar).

Gerade bei der Behandlung von Formen im Zusammenhang mit Musik der Wiener Klassik ist es wichtig zu wissen, dass die meisten der folgenden Formen erst später von Musiktheoretikern des 20. Jahrhunderts (wie z.B. Erwin Ratz) erfunden wurden und sich dann in der Lehre der Musikanalyse etabliert haben. Deshalb ist es schlicht falsch, zu denken, Komponisten der Wiener Klassik oder der Romantik, hätten ausschliesslich nach diesen Formen (vor allem Grossformen sind in dieser Hinsicht problematisch) komponiert. Entsprechend werden hier zwar die "allgemeingültigen" Formbegriffe behandelt, aber auch die Problematiken in den einzelnen Unterkapiteln aufgezeigt.

Quellen, welche für eine historische Formenlehre geeignet sein können (je nach Gattung, Zeit, Entstehungsort), sind z.B. folgende:

Eine äusserst anschaulich aufbereitete und historisch ausgewogene Formenlehre findet sich bei Ulrich Kaiser als Open Book, sowie auf seiner Website https://musikanalyse.net/tutorials/ unter "Form".

Wie sich in einem lebendigen Organismus das Leben in verschiedenen Ebenen abspielt (einzelne Zelle, Zellgruppen, Organe, Organismus), so lässt sich auch das formale Geschehen auf verschiedenen Ebenen untersuchen:

Kleingliedrige Formen

Periode

Eine Periode ist ein 4, 8 oder 16 Takte langer musikalischer Abschnitt, welcher aus zwei Teilen besteht, die sich wiederum jeweils aus zwei Phrasen (= zusammenhängende Gestalt) zusammensetzen. Der erste Teil mit öffnendem Charakter heisst Vordersatz, der zweite Teil mit schliessendem Charakter wird als Nachsatz bezeichnet. Die öffnende oder schliessende Wirkung kann in der Musik auf unterschiedliche Art und Weise erzeugt werden. Oft wird die öffnende Wirkung harmonisch, also durch einen Halbschluss zur V, die schliessende Wirkung durch einen Ganzschluss zur I erzielt. Aber auch die melodische Öffnung zur Quinte (5.Tonleiterton) und Schliessung zum Grundton ist häufig zu finden. Die folgende Abbildung veranschaulicht das Modell:

Schema der Periode

Schema der Periode, leicht angepasst aus: Ulrich Kaiser: musikanalyse.net, online: https://musikanalyse.net/content/tutorials/periode-und-satz/periode.png, aufgerufen am: 2.8.2022.

Am einfachsten lässt sich die Periode mit dem Anfang des Liedes "Hänschen Klein" merken, wo die ersten vier Takte einen Vordersatz, die Takte 5-8 einen Nachsatz bilden:

In Mozarts Sonate KV331, in A-Dur, 1. Satz, kommt beispielhaft in den Takten 1-8 eine Periode vor, mit Vordersatz zum Halbschluss (E-Dur als V) in den Takten 1-4 und dem Nachsatz zum Ganzschluss (A-Dur als I) in den Takten 5-8:

Satz "nach Ratz"

Der Musiktheoretiker Erwin Ratz hat den Begriff Satz 1951 als Formmodel (nicht zu Verwechseln mit dem Satz als abgeschlossenes Teilstück einer Suite, Sonate oder Sinfonie) geprägt. Dieser besteht aus einer ersten Phrase mit Motiv, das als zweite Phrase wiederholt oder sequenziert wird und einem doppelt so langen Entwicklungs- oder Fortspinnungsteil. Im Entwicklungsteil werden oft Elemente aus dem Modell verwendet, kann aber auch neue Motivik bringen. Oft bleibt der Satz harmonisch offen (z.B. mit einem Halbschluss auf V). Der Satz nach Ratz ähnelt stark einer Barform (siehe Mittelalter - Weltlich: Minnesang), wobei diese strikt die Form AAB hat, der Satz jedoch eine Variation AA'B zulässt.

Schema des Satz nach Ratz

Schema des Satz nach Ratz, leicht angepasst aus: Ulrich Kaiser: musikanalyse.net, online: https://musikanalyse.net/content/tutorials/periode-und-satz/satz.png, aufgerufen am: 2.8.2022.

Merken kann man sich den Satz nach Ratz mit dem kompletten "Happy Birthday", wo die ersten zwei Takte die erste Phrase darlegen, diese wird variiert in den nächsten zwei Takten und die Takte 5-8 schliessen mit dem Entwicklungsteil ab (hier auf I):

In Beethovens Sonate Op.49/1, in g-Moll, 1. Satz, kommt beispielhaft in den Takten 1-8 ein Satz nach Ratz vor, mit erster Phrase Takt 1-2, varierter zweiter Phrase Takt 3-4 und dem Entwicklungsteil in den Takten 5-8 hin zum Halbschluss (D-Dur als V):

In der analytischen Praxis lässt sich daher am besten über die Takte 3-4 einer idealtypisch acht Takte langen Einheit erkennen, ob eine perioden- oder satzartige Themenbildung vorliegt. Das folgende Diagramm veranschaulicht den oben genannten Sachverhalt:

Vergleich zwischen Periode und Satz nach Ratz

Vergleich zwischen Periode und Satz nach Ratz, aus: Ulrich Kaiser: musikanalyse.net, online: https://musikanalyse.net/content/tutorials/periode-und-satz/periode-satz-modell.png, aufgerufen am: 2.8.2022.

Aufgabe 20: Aufgaben zu den kleingliedrigen Formen

Hilfsmittel:

Aufgaben:

  1. Spiele auf dem Keyboard "Hänschen Klein" (siehe Noten im obigen Video) bis und mit Takt 8 und begleite dazu mit den Stufen I und V der Grundtonart G-Dur an geeigneten Stellen (öffnende/schliessende Stellen, gemäss dem Schema der Periode). Spiele deine Lösung dem/r NachbarIn vor und vergleicht die Lösungen im Plenum.

  2. Welche Form findet man am Anfang dieses Musikbeispiels?
  3. Welche Form findet man am Anfang dieses Musikbeispiels (beim Choreinsatz ab 13:18)?
  4. Welche Form findet man am Anfang dieses Musikbeispiels?
  5. Welche Form findet man am Anfang dieses Musikbeispiels (ab 1:58)?
  6. Welche Form findet man am Anfang dieses Musikbeispiels?
  7. Versucht in Kleingruppen (2-4 SuS) ein Bodypercussion-Ministück zu schreiben, zu üben und zu performen. Wählt dabei entweder die Form einer Periode (abab'/c)oder eines Satz nach Ratz (aa'b) (siehe auch die Formschemen oben). Die Dauer soll 8 Takte betragen. In der Runde, wo ihr euch das Stück gegenseitig vorspielt, sollten die anderen klar erraten können, um welche Form es sich handelt.
  8. Als Notationsvorlage findet ihr hier eine PDF-Datei:

    pdf icon Bodygroove Formenlehre

  9. Findest du in Anfängen von Popsongs Perioden oder Sätze nach Ratz? durchsuche deine Playlists oder Pop-Playlists auf Spotify/Youtube o.ä. und erstelle eine kleine Sammlung. Wende dafür maximal 20 Minuten auf.
  10. Schreibt eure Lösungen auf und stellt sie auf die Cloud (Benenne das Dokument im Format "MG_FormenlehreKlein_ Name(n)_Klasse"):

    https://cloud.ksso.ch/index.php/s/WoJsTqbdwk8ZLLi

Grossgliedrige Formen

Liedform

Unter einer Liedform versteht man die kleinste grossgliederige Musikform, welche ein Thema beinhaltet. Die Liedform kommt, entgegen ihres Namens, nicht nur in Liedern, sondern auch in Instrumentalmusik vor.

Die Liedform kommt in zwei verschiedenenen Ausprägungen vor:

Rondo

Im popsongähnlichen Rondo wechseln sich jeweils Refrain (gleichbleibender Teil A) und Couplets (wechselnde Teile, also eine Art Strophen B, C, D etc.) ab. Diese Coupletteile stehen oft in einer anderen Tonart als die Refrainteile, welche meistens in der Grundtonart stehen.

Die Couplets können innerhalb des Gesamtablaufs verschieden angeordnet werden. Ergeben sich immer wieder neue Couplets ohne Wiederholungen eines solchen, spricht man von einem "Kettenrondo".

Schema Kettenrondoform

Schema einer Kettenrondoform

Bekanntestes Beispiel ist wohl Beethovens Albumblatt WoO 59 in a-moll, berühmt geworden unter dem Titel "Für Elise", welches in der Gesamtform einer kleinen Rondoform (ABACA) entspricht (zahlreiche Wiederholungen und Verschachtelungen sind im Video nicht abgebildet, siehe Aufgabe 21 unten).

Ein sehr klares Beispiel bezüglich der abgegrenzten Teile findet sich in Bachs Violinkonzert, E-Dur, BWV 1042, 3. Satz; also bereits im Barock, wo diese Gattung ihren Ursprung hatte (die Verwandtschaft zum Rondeaux der Formes-Fixes ist umstritten und passt musikalisch nur entfernt):

Aufgabe 21: Aufgaben zu den Liedformen und zum Rondo

Hilfsmittel:

Aufgaben:

  1. Welcher Liedform entspricht jeweils eine Strophe dieses Musikbeispiels?
  2. Welcher Liedform entspricht jeweils eine Strophe dieses Musikbeispiels?
  3. Welcher Liedform entspricht jeweils eine Strophe dieses Musikbeispiels?
  4. Innerhalb von Grossformen sind natürlich nach wie vor kleingliedrige Formen zu finden. Welche Kleinform ist im A-teil von Oh Tannenbaum (obiges Beispiel für die Da capo-Form ABA) zu finden?
  5. Dazu können auch Motive verarbeitet werden, wie wir im Kapitel "Klassik - Grundlagen - Bausteine" kennengelernt haben. Findet im B-Teil eine verarbeitung statt? Falls ja, welche?

  6. Versuche zu Beethovens Albumblatt WoO 59 in a-moll ("Für Elise") eine detailliertere Formanalyse zu machen.
  7. Gehe folgendermassen vor:

    1. Singe die Melodie/Oberstimme zur Aufnahme mit (die Motive könnt, müsst ihr aber nicht aufzeichnen).
    2. Bezeichne auf einem Zeitstrahl kleinformalen Teile mit Kleinbuchstaben (z.B. Ausgangsteil: a; gleiche Teile: a; sequenzierte Teile: aseq; variierte Teile: a', a'' etc.; neue Teile: b, c etc.).
    3. Grossbuchstaben für Themen (grössere zusammengehörende Teile) ergänzen (mit Zeitcode des Videos versehen) und Formbegriffe "Refrain" und "Couplet" beschriften (können mehrere Themen lang dauern).
    4. Zusatzaufgabe: "Satz nach Ratz", "Barform", "Periode" mit "Vorder-"/"Nachsatz" bezeichnen, falls vorhanden.

    Als Hilfe zur Vorstellung der Dauerverhältnisse der Teile, hier der Anfang der Analyse:

    Beginn Analyse Für Elise

    Notiert eure lösungen digital oder auf Papier stellt sie auf die Cloud (Benenne das Dokument im Format "MG_FormenlehreRondo_ Name(n)_Klasse"):

    https://cloud.ksso.ch/index.php/s/WoJsTqbdwk8ZLLi

Sonatenhauptsatzform

Aufgabe 22: Einleitende Aufgabe zur Sonatenhauptsatzform

Da die Sonatenhauptsatzform einem Modell entspricht, welches erstens nicht der Klassik zeitgenössisch, sondern erst im 19. Jahrhundert erfunden rückwirkend ahistorisch verwendet wurde und wird, und zweitens in der Praxis in Kompositionen häufig Abweichungen unterliegt, liegt es nahe, mit unserem Analyseweg (Melodieverläufe zeichnen, Anhand des Gehörten Formteile mit vergleichenden Buchstaben versehen, etc.) eine Mini-Sonate, eine sogenannte Sonatine, zu analysieren und erst dann mit dem heute bekannten Modell der Sonatenhauptsatzform zu vergleichen. So kann zumindest teilweise verhindert werden, dass das Modell überhand nimmt bei der individuellen Hörweise/Höranalyse von Sonatenhauptsätzen.

Aufgaben:

  1. Versuche zur Sonatine Op. 36 Nr. 2, 1. Satz, von Muzio Clementi eine detailliertere Formanalyse zu machen.
  2. Gehe folgendermassen vor:

    1. Motive schematisch aufzeichnen (x-Achse Dauer, y-Achse Tonhöhe, Tonhöhenverhältnisse und -dauern sollen möglichst sinnvoll dargestellt werden, Tonhöhenrichtungen müssen korrekt stimmen)
    2. Motivreihenfolge mit Kleinbuchstaben bestimmen (z.B. a a' b c a b bseq a etc.)
    3. „Themen“ (Grossbuchstaben) bestimmen (z.B. A A’ B etc.)
    4. Formbezeichnungen ergänzen (Bar, Satz n. Ratz, Periode [Vorder-/Nachsatz], Reprisenbar etc.]
    5. Harmonische Schlüsse der Themen (Grossbuchstabenteile) mit Stufen bestimmen (z.B. I V IV etc.)

  3. Lese die untenstehende Einführung in die Sonatenhauptsatzform. Findest du die Teile "Exposition", "Durchführung", "Reprise", "Hauptsatz/1. Thema", "Seitensatz/2. Thema", "Schlussgruppe" (je in deiner Analyse ergänzen), sowie den Tonartenplan (mit deinen Herausgehörten Stufen von e) vergleichen) im oberen Stück wieder?

Modell der Sonatenhauptsatzform

Modell der Sonatenhaupsatzform

Modell der Sonatenhaupsatzform

Die Sonatenhauptsatzform stammt harmonisch von der Suitensatzform ab (vgl. Barock - Instrumentalmusik - Suite - Suitensatzform und Beispiel: Menuett), bei welcher zwei Teile jeweils wiederholt werden: Ein öffnender Teil zur V und ein schliessender Teil zur I.

Davon wird der erste Teil - die sogenannte "Exposition" - in der Sonatenhauptsatzform übernommen. Sie enthält einen ersten Abschnitt, der "Hauptsatz" oder auch "1.Thema" genannt wird und auf der I. Stufe steht. Anschliessend führt eine Überleitung zur V. Stufe, auf welcher der "Seitensatz" oder auch "2. Thema" folgt. Mit allfälligen weiteren Themen, von welcher der abschliessende auch "Schlussgruppe" genannt wird, wird die Exposition beendet. Wie in der Suitensatzform wird die Exposition der Sonatenhauptsatzform üblicherweise wiederholt.

Der von der Suitensatzform her stammende schliessende Teil zur I wird in der Sonatenhauptsatzform unterteilt in einen Teil mit Verarbeitung der Themen und Motive der Exposition - meist in verschiedenen Tonarten, die sogennante "Durchführung". Diese endet oft auf einem Halbschluss, also einer V. Stufe, damit der folgende abschliessende Teil, die "Reprise" natürlicherweise (V verlangt als Auflösung eine I) auf der I. Stufe beginnen kann.

Die Reprise wiederholt nun die Exposition mit der gewichtigen Ausnahme, dass nun alles Material ab dem Seitensatz/2. Thema nicht mehr auf der V. Stufe steht, sondern auf der I. Stufe. Die Überleitung, welche in der Exposition vor allem der Modulation (Wechsel der Tonart hin zur V) gedient hat, wäre nun eigentlich überflüssig. Gerade dort aber sind in den Musikstücken oft sehr geschickte Kompositionseinfälle zu hören. Dieser Teil wird auch "Einrichtung" genannt. Dank dieser Einrichtung auf die erste Stufe, in welcher alle folgenden Teile nun stehen, kann nun das Stück auf der I. Stufe enden.

Manchmal wird einer Sonatenhauptsatzform eine Einleitung vorangestellt und/oder eine Coda (Schluss) angehängt.

Quellen und weiterführende Literatur/Links