Musikgeschichte - Gymnasium
Musikalisch gesehen ist eine gewichtige Neuerung, dass nun Dur- und Molltonarten eben nicht nur theoretisch (wie bei Glarean), sondern auch praktisch in der Musik Anwendung finden. Die Musik wird immer mehr tonleitermässig auf einen Grundton bezogen. Dennoch besteht modale Musik patrallel dazu immer noch.
Während vor 1600 - pauschalisierend beschrieben - vor allem geistliche Musik und weniger weltliche Musik schriftlich überliefert wurde, ändert dies nun nach und nach.
Zum einen wird dieses Phänomen durch den bereits in der Renaissance von Ottaviano Petrucci (1466-1539) erfundenen Einzellettern-Notendruck, welcher von Johann Gottlob Immanuel Breitkopf (1719–1794) nochmals bedeutend verbessert wurde, vorangetrieben. Wie der Druck mit beweglichen Einzellettern (=Typen) funktioniert, wird hier sehr anschaulich gezeigt:
Ein Video zu einer weiteren Drucktechnik, dem sogenannten "Notenstich", findet sich hier: https://www.mediathek.at/atom/018AA792-140-02287-00000484-0189A3E5
Zum anderen aber ist hauptsächlich der gesellschaftliche Umbruch hin zum Humanismus entscheidend für das Aufkommen weltlicher Musik. Nun steht der Mensch mit seinen Affekten, als Leidender, als Zorniger, als Klagender, als Freudiger oder als Triumphierender und - wahrscheinlich am häufigsten - der Mensch als Liebender im Mittelpunkt aller Kunst, speziell der Musik.
Neue Gattungen entstehen, so etwa die Oper, die in Affekte verstrickte Menschen auf der Bühne zeigt, ebenso das Konzert, das einen Solisten einem Ensemble, den einzelnen Menschen einer Gruppe in dramatischer Gestaltung gegenüberstellt. Zur neuen weltlichen Gattung der Oper erleben auch ihre geistlichen Pendants, das Oratorium und die Kantate, massive Entwicklungen. Geistliche und weltliche Musik werden im Barock nach und nach praktisch gleichbedeutend und stehen sich einander auch stilistisch nahe.
Die Zeit nach 1600 bis ca. 1750 wurde noch lange mit anderen Begriffen, wie die "Epoche des Generalbasses" oder das "Zeitalter des konzertierenden Stils" (nach dem um 1900 lebenden Musikhistoriker Hugo Riemann), umschrieben. Nach 1900 setzte sich in Folge von Schriften der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) und Heinrich Wölfflin (1864-1945) der Begriff "barock" als Bezeichnung für den genannten Zeitraum durch. Bis dahin hatte das Wort "barock" eine eher negativ-abwertende Bedeutung. Es leitet sich vom portugiesischen "barroco" (für "ungleichmässig", "schiefrund"), einer ursprünglichen Bezeichnung von Juwelieren für minderwertige Perlen, ab.
Mit dem Aufkommen der weltlichen Musik, werden nun die Anteile an autonomer Musik als Gegenteil rein funktionaler Musik, und damit an Musik als "Kunstwerk" massiv höher. Als Kunstwerk in der bildenden Kunst wird eine sensorisch wahrnehmbare Gestalt (physischer Gegenstand, Gemälde, Literatur, Musik etc.) definiert, von dem von der Autorschaft bestimmt oder auf andere Weise davon ausgegangen wird, dass er eine primär eigenständige ästhetische Funktion erfüllt.
Jedoch ist ein fixer Epochenbegriff des Barock höchst umstritten, wie etwa Werner Keil zu bedenken gibt:
Keils Einwände sind durchaus berechtigt. Man muss sich jedoch generell einer linearen Musikgeschichtsschreibung bewusst sein, welche aber durch zahlreiche Überlagerungen von Entwicklungen, Gattungsgeschichten, Kompositionsweisen, stilistischer und gesellschaftlicher Trends etc. durchzogen wird. Die hier verwendete Epocheneinteilung dient schlicht einer pädagogisch übersichtlicheren und natürlich traditionalisierten Einordnung. Dank der eingehenden Reflexion über diese Thematik soll einem "laienhaften Musikgeschichtsverständnis" auf jeden Fall entgegengewirkt werden.
Aus dem "basso seguente", also der auf den Bass reduzierten Begleitstimme der mehrchörigen Musik, entwickelte sich im Zuge der Monodie (siehe Barock: Vokalmusik) der "basso continuo" oder eben Generalbass. Diese Begleitstimme besteht aus einer Notenzeile in konventioneller Notenschrift im Bassschlüssel, auf deren Grundlage die Begleitakkorde aufgrund der Kontrapunkt und Generalbassregeln (Oktavregel, siehe hier) improvisiert werden.
Die Generalbasslinie kann optional mit Ziffern versehen werden, um den Spielenden die Harmonisierung genauer zu definieren oder die Lesbarkeit zu erleichtern.
Die Bezifferung besteht aus einer oder mehreren Ziffern, die heute meist unter dem Basston vertikal angeordnet werden. Bei den alten Originalen steht die Bezifferung meist oben. Sie bedeuten leitereigene Intervalle zwischen dem notierten Basston und den weiteren zu spielenden Tönen des damit gemeinten Akkordes.
Dabei werden in der Regel lediglich Abweichungen vom leitereigenen Dreiklang über dem Basston beziffert: Ein über einem unbezifferten Basston geforderter Dreiklang wird damit als Dreiklang in Grundstellung gespielt. Er besteht aus dem Basston mit der leitereigenen Terz (3, nicht beziffert) und der leitereigenen Quinte (5, nicht beziffert).
Die Bezifferung schreibt dabei die Lage, also die Anordnung der Akkordtöne und den jeweils obersten Ton desselben, nicht vor. Diese kann von der/dem Spielenden frei gewählt werden.
Einige Beispiele (Akkorde in grau sind in Generalbassnotation nicht sichtbar, sondern das Resultat der Improvisation, hier zum besseren Verständnis immer in Quintlage notiert):
Bei der Ausführung des Generalbasses kamen ausser Orgel und Cembalo, die für fast zweihundert Jahre das Rückgrat des Generalbasses bildeten, auch Zupfinstrumente wie Laute, Theorbe, Gitarre, gelegentlich auch die Harfe zum Einsatz. Zur Verstärkung der Bassstimme wurden Violone, Dulcian oder vereinzelt auch die Barockposaune verwendet.
Jedoch gab es durchaus Unterschiede in der Spielweise der Instrumente:
Zum besseren Verständnis hier noch ein sehr anschauliches Erklärvideo zum Generalbass:
Im Beispiel von Claudio Monteverdis "In questo lieto e fortunato giorno" aus dem 1. Akt der Oper (im Original "Favola in Musica") "Orfeo" hört man wunderbar die Ornamentinstrumente mit Auszierungen des Generalbasses, im Vergleich mit der schlichten Originalnotation des Erstdruckes von 1609, in welchem man die ausnotierte Generalbasszeile mit Bassschlüssel und Bezifferungen (Ende S.6 und 3.Takt S.7) erkennen kann:
Hier der Vergleich zu einer späteren Ausgabe von 1930 mit ausgesetztem Generalbass (klein notiert in einem System über der originalen Bassstimme):
Das Bildmaterial aus folgendem Kapitel stammt aus: Ulrich Kaiser: https://www.musikanalyse.net/tutorials, aufgerufen am: 2.6.2021. Auf der gleichen Website sind sehr anschauliche weiterführende Informationen zu finden.
Im Barock kamen zusätzliche Satzmodelle in Mode, welche sich nun aber im Zusammenhang mit der Generalbasspraxis mehr auf den Bass bezogen. Zwei der wichtigsten Modelle wollen wir hier kurz erörtern, da sie in der künftigen Musik - auch in der heutigen Popmusik - definitiv ihre Spuren hinterlassen haben.
In der Literatur wird der Lamentobass (von lat. lamentare = weinen, klagen) als ein musikalischer Topos bezeichnet. Einen Topos kann man sich - gemäss Ulrich Kaiser - vorstellen wie eine formelhafte Wendung mit einer bestimmten Funktion. Eine Formel mit Schlussfunktion für einen Brief könnte zum Beispiel lauten: "Tschüss", "Mit freundlichen Grüssen" oder auch "Hochachtungsvoll", wobei die Art der Formel über das Verhältnis von Sender und Empfänger Auskunft gibt.
Solche Topoi können ihre Bedeutung über die Epochen hinweg natürlich ändern. Wie wir gesehen haben, galt etwa der Fauxbourdon als Topos für geistliches (wegen der Dreifaltigkeitssymbolik), später aber auch für Vergangenes oder Schlechtes.
Der Lamentobass gilt als ein Klage-Topos in der Musik, weil er von Komponisten häufig verwendet worden ist, wenn es galt, in der Musik ausgiebiges Klagen und Jammern zu vertonen. Das war um 1600 in erster Linie in Opern der Fall: Einige der schönsten Lamentobass-Vertonungen finden sich zum Jammern unglücklicher Frauen und Männer wie beispielsweise der Ninfa, des Orfeo, der Arianna und vielen anderen. Von der Oper aus hat dann der Lamentobass auch Eingang in viele Werke der Instrumentalmusik gefunden.
In der musikalischen Analyse wird der Begriff Lamentobass oftmals als Bassverlauf in Verbindung mit einer charakteristischen Harmonik verwendet. Für die folgenden Ausführungen ist auch aufgrund der zeitlichen Veränderbarkeit von musikalischen Topoi weniger entscheidend, ob der Lamentobass die Funktion hat, "Klage" und "Trauer" auszudrücken, sondern man soll in der Lage sein, einen Lamentobass in verschiedenen Kontexten erkennen und ihn auf eine differenzierte Art hören zu können.
Ein Lamentobass beginnt auf dem Grundton und schreitet stufenweise abwärts bis zum Quintton einer Tonart. Das folgende Beispiel zeigt die Tonhöhen eines Lamentobasses in der Tonart a–Moll:
Die einfachste Harmonisierung beginnt mit einer grundstelligen Klang auf dem Grundton a (quasi a-Moll) und endet mit dem grundstelligen Klang auf dem 5. Tonleiterton e mit Leitton gis als Terz (quasi E-Dur, modern: "Dominante"). Zwischen diesen beiden Polen des Modells erklingen Sextakkorde ("Fauxbourdon-Harmonisierung"):
Ein Musterbeispiel für eine Lamentokomposition ist der berühmte Klagegesang der Ninfa (das "Lamento della Ninfa") von Claudio Monteverdi nach einem Text von Ottavio Rinuccini. Es bildet den Mittelteil einer dreiteiligen Komposition, die Monteverdi 1638 in seinen "Madrigali guerrieri et amorosi" (VIII. Madrigalbuch) veröffentlicht hat. Im Klagegesang der Ninfa wird in der Bassstimme der Lamentobass fortwährend wiederholt (=Ostinato), eine Technik, die auch in Tanzgattungen wie der Passacaglia und Ciaconna verwendet wird. Durch die zahlreichen Wiederholungen des Basses wirkt der Klagegesang der Ninfa als endloses Leiden der unglücklichen Dame. Zusätzlich wird der Klagegesang durch ein Trio von Männerstimmen, welche eine typische Chorfunktion nach griechischem Vorbild (Kommentare zum Geschehen/Erzählten) einnehmen, ergänzt.
Zwei spezielle klangliche Ereignisse des Lamento wollen wir noch hervorheben:
Der Lamentobass kann auch durchgängig chromatisiert werden. Diese Figur wurde vom barocken Musiker und Musiktheoretiker Christoph Bernhard (1628-1692) als "passus duriusculus" (= harter/schwerer Gang) bezeichnet. Ihm zufolge tritt ein Passus duriusculus auf zwei Arten in Erscheinung: Erstens, wenn eine Stimme „ein Semitonium minus steiget, oder fället", also um mehrere Halbtöne auf-/oder abwärts fortschreitet.
Der chromatisierte Lamentobass kommt sehr häufig als zusätzliche Verstärkung des Leidensausdrucks vor (ähnlich wie in der chromatischen Stelle im Lamento della Ninfa). So wird etwa im "Cruzifixus" der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach das Leid Jesu am Kreuz durch den chromatisierten Lamentobass verstärkt:
Das vielleicht bekannteste Harmoniemodell der Musik des 17., 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts sowie der Pop-Rock-Jazz-Musik dürfte die Quintfallsequenz sein. Das nachfolgende Notenbeispiel zeigt diese Sequenz bzw. den sekundweise abwärts sequenzierten Quintfall (Quintfall ist im Bass gut ersichtlich: c-f-h-e etc.). Dabei ist zu beachten, dass die Ober- und Unterstimmen immer abwechslungsweise die Intervalle 7-3-7-3 zum Bass vollziehen, also Dissonanz zu Konsonanz auflösen:
Exkurs: Diese Sequenz stammt ursprünglich aus den im Kaiser-Tutorial behandelten Vorhaltsketten 7-6 mit zugefügtem 3-5-3 Bass (wie beim Parallelismus), diesmal aber 3-5-3 zur Oberstimme (Patiens). Die "Grundtöne" (wenn man akkordisch denkt) des Quintfalls sind nun auf Bass und Unterstimme verteilt (c-f-h-e etc.).
Die Quintfallsequenz kommt z.B. in folgender Musik vor:
Bei Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 3, BWV 1048, 3. Satz, ist der Quintfall im Bass klar erkenn- und hörbar. Jedoch liegt eine Abweichung zum obigen Modell vor: In der Oberstimme wird die Septime jeweils durch die Quinte ersetzt, wodurch sich eine Dissonanzstation weniger ergibt und eine gewisse Milderung eintritt, welche wegen dem raschen Tempo aber weniger wahrnehmbar ist.
Ein Beispiel aus dem Jazz wäre der Standard "Autumn Leaves". Die hier gezeigte Begleitung von taktweise stimmgetauschten Septimen und Terzen über dem Grundton ist im Jazz eine typische Begleitungsweise (dreistimmiges Voicing) und entspricht im Grunde dem oben gezeigten Grundmodell (in moll und transponiert) aus dem 17. Jahrhundert, mit dem massiven Unterschied, dass nun in Akkorden gedacht wird (man erkennt den Akkord anhand der Akkordsymbole, und weiss daraus, welches die Septime und die Terz ist), statt kontrapunktisch (Terz und Septime zum Basston gedacht).
Hilfsmittel:
Aufgaben:
Übt zuerst beide den Lamentobass mit der linken Hand und nehmt dann die rechte Hand dazu. Versucht vom Generalbass her zu spielen und erst, wenn es gar nicht geht, die ausgesetzten Noten der rechten Hand von oben zur Hilfe zu nehmen.
Versucht dann über den Bass zu improvisieren. Jemand spielt weiternhin den Bass mit Generalbassbegleitung (muss nicht schnell, sollte aber in einem konstanten Tempo sein; es hilft allenfalls, wenn in der linken Hand anstelle der ganzen Noten Viertelwerte gespielt werden). Die andere Person improvsiert Melodien darüber. Das Tonmaterial von a-Moll bietet sich an, wobei dies ohne und mit Leitton möglich ist (also g und gis). Versucht rauszuhören, bei welchem Basston/Akkord sich welche 7. Tonstufe eher eignet.
Spielt euch in der Klasse im Plenum gegenseitig Improvisationen vor. Alternativ könnt ihr auch am Xylofon einen Klassen-Impro-Rundlauf machen.
Um den Sachverhalt der verschiedenen Stimmungssysteme muss man zuerst den Begriff der Intonation klären. Bei der Intonation geht es grob gesagt um die Vermeidung feiner Tonhöhenunterschiede zwischen mehreren Tönen. Diese Unterschiede lassen sich bestimmen und in der Einheit Cent angeben. Alexander John Ellis hat diese Einheit Ende 19. Jahrhundert zum ersten Mal verwendet und folgendermassen definiert: 1 Cent ist der hundertste Teil eines Halbtonschrittes der gleichstufig temperierten Stimmung (= heute übliche Stimmung des Klaviers). Also ein Hundertstel eines Tonabstands von einer Taste zur nächsthöheren/-tieferen auf einem modernen Klavier.
Folgende Hörbeispiele stammen von Andreas Puhani: "Intonation und historische Stimmungen", online: https://musikanalyse.net/tutorials/stimmungen/ , aufgerufen am: 18.8.2021.
Wenn zwei gleichzeitig gespielte Töne dieselbe Frequenz haben, klingen diese zusammen wie ein Ton. Man nennt dies schwebungsfrei. Schwebungen ergeben sich, wenn zwei Töne nicht die genau gleiche Frequenz haben.
Mit folgendem Tool kann man dies gut ausprobieren. Stellt nach Belieben Frequenzen für zwei gleichzeitig klingende Töne ein. Ist die Freuquenz übereinstimmend (z.B. 220 und 220 Hz), klingen die Töne als ein schwebungsfreier Sinuston. Wird die Frequenz des 2. Tons leicht verändert (z.B. 220 und 224 Hz), so lassen sich deutliche Schwebungen wahrnehmen.
ACHTUNG!!! Bei Benützung dieser App soll die Lautstärke zuerst auf ein Minimum heruntergefahren und dann langsam erhöht werden, ansonsten drohen Hörschäden!!! Diese App kann durch den binauralen Aufbau bei gewissen Leuten gesundheitliche Probleme auslösen. Binaurale Schwebungen sind das auditive Äquivalent zu Stroboskoplichtern und können bei bestimmten Beatfrequenzen das Verhalten von Gehirnwellen beeinflussen - ein Vorgang, der als "Entrainment" (z.B. zur Enspannung/Meditation) bezeichnet wird. Bei gezielter und im Rahmen dieser Website empfohlener Anwendung sind die Risiken jedoch sehr gering.
Haftungsausschluss: Binaurale Beats sind weit verbreitet, einfach im Konzept und veröffentlichte Studien (siehe z.B. Helané Wahbeh, Carlo Calabrese und Heather Zwickey: "The Journal of Alternative and Complementary Medicine", Januar/Februar 2007, 13(1): S.25-32) haben gezeigt, dass sie Angstzustände reduzieren können. Sie sollten den Binauralen Beat Generator nicht verwenden, wenn Sie unter 14 Jahre alt sind, schwanger sind, zu Krampfanfällen neigen oder an einer psychischen Erkrankung leiden. Der Autor, die Kantonsschule Solothurn, sowie die originale Website OnlineToneGenerator.com übernehmen keine Haftung für nachteilige Folgen, die sich aus der Verwendung des "Binaural Beat Generators" ergeben und durch Drücken von Play stimmen Sie diesem Haftungsausschluss zu. Wenn Sie sich nicht sicher sind oder diesem Haftungsausschluss nicht zustimmen, drücken Sie nicht auf Play.
Die Intervalle, welche für unser Ohr am reinsten klingen, sind diejenigen, welche wir ganz zu Beginn des Mittelalterkapitels mit den Monochorden oder Gitarren hergeleitet haben: Die Intervalle der Naturtonreihe.
Die meisten Stimmungsysteme basieren nun darauf, dass man versucht, möglichst viele Intervalle im Tonsystem zu haben, welche mit den Intervallen der Naturtonreihe exakt übereinstimmen (0 Cent Abweichung). Dies ist aber, wie wir gleich sehen werden, gar nicht so einfach.
Der griechische Philosoph Pythagoras (6. Jhd. v.Chr.) ist heute vor allem als Mathematiker bekannt, beschäftigte sich jedoch auch mit Musiktheorie. Auf ihn beruft man sich, wenn man von der "pythagoräischen Quinte" spricht.
Diese Quint kommt in der Obertonreihe vor, sie ist gewissermassen naturgegeben. Die beiden Töne, Quintton und Grundton, haben Frequenzen, deren Werte im Verhältnis 3:2 stehen, wie wir bereits im Einleitungskapitel zum Mittelalter gesehen haben. Bei einer reinen Quinte verschmelzen die beiden Töne so sehr, dass man das Quintintervall als schwebungsfreie Einheit wahrnimmt.
Die uns geläufigere Quinte, welche wir vom Klavier her kennen, ist aber eine leicht angepasste Quinte. Man nennt sie temperierte Quinte. Weshalb man diese im heutigen Stimmungssystem des Klaviers (=temperierte Stimmung) eben anpassen muss, wird am Quintenzirkel deutlich: Die Vorstellung eines Zirkels, welcher sich bei den enharmonisch verwechselten Tönen (z.B. fis/ges)schliesst, kann nur dann funktionieren, wenn man keine reinen (pythagoräischen) Quinten verwendet, sondern minimal kleinere, um ca. 2 Cent verengte Quinten.
Auch wenn man zwischen diesen beiden Arten von Quinten zunächst kaum einen Unterschied hören kann: Reine Quinten wären für den gechlossenen Quintenzirkel zu gross! Das kann man sich am besten am Quintenturm klarmachen: Wenn man von einem beliebigen Ton ausgeht - in unserem Beispiel ist es der Ton es - und 12 Quinten aufeinander türmt, erreicht man einen Zielton - in unserem Beispiel dis. Die Töne dis und es liegen auf dem Klavier auf der selben Taste, sie sind, enharmonisch betrachtet, der gleiche Ton (enharmonische Verwechslung). So könnte man zunächst annehmen 12 Quinten seien ganz einfach das selbe wie 7 Oktaven.
Wenn man allerdings reine Quinten verwendet, stimmt diese Annahme nicht. Mit reinen Quinten erreicht man einen Zielton, der merklich höher ist als die siebenfache Oktavierung des Ausgangstones. 12 reine Quinten schiessen sozusagen über das Ziel hinaus, der Quintenturm ist in diesem Fall um etwa 23,5 Cent höher als 7 Oktaven. Diese 23,5 Cent werden pythagoräisches Komma genannt. In Bezug auf den Quintenzirkel heiss das: Reine Quinten ergeben keinen Quintenzirkel, sie sind dafür zu gross. Der Kreis schliesst sich bei einem reinen/pythagoräischen Stimmungssystem nicht.
Wenn der Kreis sich aber schliessen muss, wie etwa beim heutigen Klavier, dann kann man die einzelnen Quinten unmerklich verengen und erreicht nach 12 Quinten genau die Oktavierung des Ausgangstones. Man verteilt also das pythagoräische Komma gleichmässig auf die zwölf Quinten. Diese Verengung beträgt ziemlich genau zwei Cent und ist bei der einzelnen Quinte kaum wahrnehmbar, jedenfalls wird sie von den Wenigsten als störend empfunden.
Wir haben damit die Grundlagen zweier wichtiger Stimmungssysteme kennengelernt:
Bei folgendem Video hört man diverse Dur-Tonarten in verschiedenen Stimmungen; nämlich gleichstufig-temperiert (im Video als "gleichschwebend" bezeichnet), Kirnberger III (eine temperierte Stimmung um 1770, also nach J.S. Bach) und die reine (pythagoräische) Stimmung. Besonders auffällig sind eben die für unsere Ohren ziemlich schlecht tönenden entfernten Tonarten der reinen Stimmung. Am Ende des Videos befindet sich eine falsche Einblendung - es ist nicht C-Dur in der reinen Stimmung, sondern erneut Fis-Dur, und zwar zum Vergleich wieder in der gleichstufig-temperierten Stimmung.
So lautet der Eigentitel auf dem Manuskript von Johann Sebastian Bachs Werk, welches für "Clavier", also jegliche Tasteninstrumente der Zeit (Clavichord, Cembalo, Spinett, Virginal, etc.) geschrieben wurde und sowohl Präludien ("Warmlaufstücke", um sich harmonisch in der Tonart einzufinden) als auch Fugen (siehe Barock - Instrumentalmusik) in allen Tonarten (Dur und Moll) aller Grundtöne der chromatischen Tonleiter enthält.
Der Begriff „wohltemperiert" bezieht sich höchst wahrscheinlich auf die 1681 von Andreas Werckmeister erfundene, von ihm so genannte temperierte Stimmung. Dabei wurden die reinen Intervalle so eingerichtet und eben temperiert, um das Spielen in allen Tonarten zu ermöglichen. Bei der bis dahin und auch noch parallel üblichen mitteltönigen Stimmung (mit rein gestimmten Terzen) dagegen sind Tonarten umso verstimmter, je weiter sie von C-Dur entfernt sind, so dass die Komponisten diese entfernten Tonarten mieden. 1710 führte Johann David Heinichen den Quintenzirkel ein, der die 24 Dur- und Moll-Tonarten in ein gemeinsames tonales System brachte und so ihre Beziehungen zueinander definierbar machte. Doch vor Bach nutzten Komponisten diese Neuerungen noch kaum praktisch aus und komponierten allenfalls einzelne Werke in den bisher gemiedenen Tonarten, so dass Johann Mattheson 1717 beklagte: „Obgleich alle Claves [=Tonarten] nunmehr per Temperaturam so eingerichtet werden können, dass man sie diatonicé, chromaticé & enharmonicè sehr wohl gebrauchen mag, eine wahrhaftige demonstratio fehlt." (Nach Christoph Wolff: "Johann Sebastian Bach", Fischer, Frankfurt am Main 2000, S. 250.)
Mit seinem Werk wollte Bach also die Eignung der temperierten Stimmung zum Komponieren und Spielen in allen Tonarten praktisch demonstrieren. Damit trug er später wesentlich zu ihrer historischen Durchsetzung bei. Welche der zu seiner Zeit zahlreichen temperierten Stimmungen Bach tatsächlich nutzte, ist jedoch unbekannt.
Die damals noch unüblichen Begriffe Dur und Moll umschrieb Bach im Langtitel des ersten Teils mit den italienischen Namen der ersten drei Tonstufen einer Dur-Skala (Ut-Re-Mi) oder Moll-Skala (Re-Mi-Fa), also dem Intervall einer grossen (Dur-) oder kleinen (Moll-)Terz, wobei das Mollbeispiel offenbar Re (also den Ton d) als Grundton hat, welches vorher klar dem/r dorischen Modus/Kirchentonart zugehörig war. Dies zeigt zusätzlich zu Bachs Tonartenbehandlung in seinen Werken, dass auch häufig noch modal (=in Kirchentonarten) gedacht wurde (vgl. v.a. Bachs Choralbearbeitungen).
Hier hören wir aus dem "wohltemperierten Klavier", das Präludium und die Fuge in Fis -Dur (ab 56:43) mit Cembalo, aber in einer modernen gleichstufig-temperierten Stimmung:
Hilfsmittel:
Aufgaben:
Errechne das "pythagoräische Komma" als Frequenzverhältnis folgendermassen: pythagoräisches Komma = 12 Quinten (Verhältnis 3/2) abzüglich 7 Oktaven (Verhältnis 2/1)
Achtung! Bei dieser Rechnung werden die Frequenzverhältnisse entsprechend ihrer Anzahl zuerst potenziert und das Resultat dividiert.
Runde auf 5 Nachkommastellen.