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Musikgeschichte - Gymnasium

Mittelalter (ca. 550-1450 n.Chr.) - Grundlagen

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Übersicht

Antikenrezeption im Mittelalter

Die meisten der wenigen Informationen über Musik aus der Antike (also vor 500 v.Chr.) sind in der Mittelalterlichen Lehre als Quelle überliefert worden. Zahlreiche Traktate von mittelalterlichen Gelehrten greifen die Lehre griechischer Autoritäten und Philosophen auf und kommentieren sie. Eine wichtige Figur stellt der gelehrte Boethius dar, welcher um 500 n. Chr. gelebt hat und beabsichtigte, sämtliche Werke Platons und Aristoteles' als Grundtexte der griechischen philosophischen und wissenschaftlichen Literatur in lateinischer Übersetzung zugänglich zu machen und zu kommentieren. Damit wollte er die wichtigsten überlieferten Bildungsgüter für die Zukunft sichern, da die Griechischkenntnisse im lateinischsprachigen Westen Europas stark abgenommen hatten. Er wurde zum wahrscheinlich wichtigsten Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und eben auch der Musiktheorie an die lateinischsprachige Welt des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert.

Bild des Boethius mit Monochord

Der spätantike Gelehrte Boethius mit Monochord (oben rechts) zusammen mit den antiken Autoritäten Pythagoras, Platon und Nikomach, Abbildung aus Cambridge, University Library, MS Ii.3.12, f. 73v., vgl.: https://brettworks.com/2017/09/26/art-about-music-boethius-de-institutione-musica-c-6th-century/, aufgerufen am 30.7.18

Griechisches Tonsystem/Systema teleion

Das Systema Teleion stellt den Tonvorrat an Einzeltönen in einer Reihe (ähnlich unseres heutigen Tonleiterbildes) dar. Wichtig ist die Tatsache, dass der akustisch tiefste Ton oben steht (also genau umgekehrt, wie im heutigen musikalischen Denken).

Systema teleion

Systema teleion mit Notationssymbolen, Abbildung aus Boethius: De arithmetica et geometria. De musica, pp. 224-225 (aus: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 358[610]) , vgl.: http://www.e-codices.unifr.ch/en/sbe/0358/224/0/Sequence-1021, aufgerufen am 4.2.22

Systema teleion übertragung

Moderne Übertragung des Systema teleion mit Notationssymbolen in allen Genera (Tonveränderungsmöglichkeiten). Abbildung aus: Calvin M. Bower: Fundamentals of Music Anicius Manlius Severinus Boethius, Translated with Introduction and Notes by Calvin M. Bower, New Haven/London 1989, S.125.

Tetrachorde

Tetrachorde (tetra = griech. vier) wurden als Aufteilungen des Tonvorrats (Systema teleion) verstanden. Sie bestehen im Normalfall aus vier Tönen (Umfang: reine Quarte) im diatonischen Abstand HT-GT-GT (von unten nach oben). Zu diesem diatonischen Tetrachord, kamen die weiteren Varianten des enharmonischen (ca.VT (Viertelton)-VT-2T) und des chromatischen (HT-HT-1½ T) Tetrachords dazu. Der Tetrachord als Begriff gehört also rein in die Zeit der Antike und der mittelalterlichen Antikenrezeption und hat mit der aus meiner Sicht unsinnigen Verwendung in der heutigen Tonleiteranschauung historisch und strukturell nichts zu tun.

Tetrachordsystem

Moderne Übertragung des Systema teleion auf heutige Tonhöhen (also aus heutiger Sicht, mit dem tiefsten Ton unten), mit den Tetrachordeinteilungen, online: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Systema_teleion.png, aufgerufen am 4.2.22

Beispiel: Das Seikilos-Lied

Die Seikilos-Stele ist ein altgriechischer Grabstein, der in Tralleis in Kleinasien (heute nahe Aydin, Türkei), gefunden wurde. Die geringe Anzahl Funde schriftlich überlieferter musikalischer Quellen ist nicht primär auf einen generellen Mangel an archäologischen Funden zurückzuführen. Es gibt vor allem deshalb so wenige Funde, weil Musik noch bis zum Ende des Mittelalters vorwiegend mündlich überliefert wurde. Der Grabstein enthält zwei Verse, wobei der zweite mit Kleinbuchstaben versehen ist, welche als Tonhöhenbezeichnungen zu deuten sind.

Seikilosstele

Details der Seikilos-Stele (Ausgestellt im Dänischen Nationalmuseum, Kopenhagen), online: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Seikilos2.tif, aufgerufen am 4.2.22

Seikilosstele moderne Schrift

Seikilos-Inschrift mit moderner Textübertragung und altgriechischer Zeichen-Notation, online: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Seikilos.png, aufgerufen am 4.2.22

Hörbeispiel: ab 0:54

Aufgabe 0: Übertragung und Höranalyse der Seikilos-Stele

Hilfsmittel:

Aufgabe:

  1. Erstellt ein Höranalysediagramm des Seikilos-Lieds. Geht dabei folgendermassen vor:
    1. Diagramm der Melodie zeichnen (möglichst genau, auf Häuschenpapier; x-Achse=Tondauer, y-Achse=Tonhöhe)
    2. Abschnitte unterteilen (Timecode des Videos dazuschreiben)
    3. Abschnitte mit Kleinbuchstaben bezeichnen (gleicher Teil = gleicher Buchstabe, ähnlicher Teil = Buchstabe mit Apostroph [z.B. a'], anderer Teil = neuer Buchstabe [z.B. b]
    4. Bestimmung von Schlüssen der Abschnitte: Ist die Wirkung der Abschnittsschlüsse jeweils offen (könnte es weitergehen?, Melodieende NICHT auf Grundton) oder geschlossen
    5. (wirkt der Teil abgeschlossen?, Melodieende auf Grundton)?

  2. Notationsübertragung
  3. Versucht, die alte Notation des Seikilos-Lieds in neue moderne Notenschrift (Korrekte tonhöhen inkl. Vorzeichen und Rhythmus) zu übertragen (handschriftlich oder digital). Lasse den Liedtext weg. Abweichungen: Das Zeichen «K» entspricht dem cis1, das Zeichen «X» dem kleinen fis.

    Um das Problem des Rhythmus zu lösen, beachtet die Zeichen über den Notationsbuchstaben und diskutiert mit euren Sitznachbarn.

    Vergleicht und besprecht anschliessend eure Notationen in der Klasse.

Musik und Gesellschaft im Mittelalter

Der Begriff Mittelalter stammt aus dem 16. Jahrhundert, wurde also erst später der Epoche zwischen Antike (Untergang des römischen Reiches um 550) und Renaissance (Beginn in Italien um 1450) zugewiesen.

Im Mittelalter gab es weltliche und geistliche Musik. Beide Arten wurden vorwiegend mündlich überliefert.

Zum Bereich der weltlichen Musik zählt vor allem der Minnesang an den Höfen, sowie die Instrumental- und Tanzmusik der Spielleute. Später entwickelten sich in der sogenannten Ars Nova (14.Jhd.) im frankoflämischen Raum die Chansons und als Pendant in Italien im Trecento (14.! Jhd.) die Madrigale.

Zur geistlichen Musik gehören die Gattung des (sogenannt "gregorianischen") Chorals und dessen Weiterentwicklungen hin zum Organum der Schule von Notre-Dame (12./13. Jhd.). Auch im geistlichen Bereich wurden in der Ars Nova neue Gattungen, wie die vertonte Messe oder die Motette entwickelt. Obwohl die Kirche im gesamten Mittelalter die vorherrschende politische und kulturelle Kraft war, wurde geistliche Musik vorwiegend nur in Klöstern von Mönchen praktiziert.

Musikalische Lehre im Mittelalter

Im Mittelalter war bei den gelehrten Klerikern das Studium der sieben freien Künsten im Zentrum. Dies sind:

Das sogenannte "Trivium":

Das sogenannte "Quadrivium":

Bild der sieben freien Künste aus dem 'Hortus Deliciarum'

Bild der sieben freien Künste aus dem "Hortus Delicarum" nach dem kolorierten Faksimile (Original wurde bei einem Brand 18709 in der Universitätsbibliothek Strassburg zerstört), vgl.: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/engelhardt1818bd2/0008


Diese mathematischen Überlegungen manifestierten sich unter anderem auch in der Lehre über die Intervalle. Diese beinhaltete die Längenverhältnisse bei der Teilung einer Saite auf dem sogenannten Monochord. Pythagoras war der Legende nach der erste Gelehrte, der sich mit den Längenverhältnissen einer Saite mit dem Monochord auseinandersetzte, nachdem er zuvor an verschiedenen Grössenverhältnissen von Glocken experimentiert hatte. Er fand heraus, dass sich je nach Teilung gemäss den simpelsten Verhältnissen 1:2, 2:3, 3:4 etc. das Intervall änderte.

Bild des Pythagoras mit Monochord

Jubal (der biblische Erfinder der Musik), mit sechs Schmieden um einen Amboss (links oben); Pythagoras beim Experimentieren mit sechs Glocken und Gläsern (rechts oben), mit sechs Saiten als eine Art sechsfaches Monocchord (links unten) und zusammen mit Philolaos mit sechs Flöten (rechts unten), Abbildung aus Franchino Gaffurio, Theorica musice (1492)S.18r., vgl.: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k58171q.f36, aufgerufen am 4.2.22

Schema eines Monochords

Schema eines Monochords, vgl: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5f/Monochord.png

Aufgabe 1: Herleitung der Intervalle mithilfe einer Gitarre als "Pseudo-Monochord"

Hilfsmittel:

Aufgabe:

  1. Bildet so viele Gruppen, wie Gitarren/Monochorde zur Verfügung stehen.
  2. Messt die tiefste Saite aus und notiert deren Länge in cm.
  3. Versucht die folgenden Längenverhältnisse auszumessen, die Saite am Bund abzudrücken und auf der einen (falls ungleich lang, auf der längeren) Seite den Ton zu spielen. Welches Intervall ergibt sich zwischen diesem Ton und demjenigen Ton der ganzen unverkürzten Saite?

a) 1:2 (Gesamtlänge geteilt durch 2):

b) 2:3 (Gesamtlänge geteilt durch 3, mal 2):

c) 3:4 (Gesamtlänge geteilt durch 4, mal 3):

Die Natur- oder Obertonreihe

Würde man diese Messreihe fortführen mit 4:5, 5:6, 6:7 etc. erhielte man beim Stapeln der Intervalle über einen Basiston folgende Tonreihe:

Schema der Naturtonreihe

Naturtonreihe über Basiston C. V.a. 7. und 11. (sog. "Alphorn-Fa") Ton klingen tiefer, als auf dem Klavier gespielt (Details dazu im Kapitel "Barock - Grundlagen: Stimmungssysteme").

Man erkennt darin auch eure Lösungen für die Verhältnisse 1:2 (C-c), 2:3 (c-g) und 3:4 (g-c') am Anfang der Reihe.

Nennt man diese Reihe Naturtonreihe (manchmal auch "Teiltonreihe" oder "Partialtonreihe" genannt), dann wird der erste Ton mitgezählt. Bei der zweiten Möglichkeit der Benennung als Obertonreihe, werden die Töne über dem Basiston gezählt, also wird mit dem ersten Ton über dem Basiston zu zählen begonnen (hier wäre das kleine c der erste Ton über dem Basiston, dem grossen C).

Aus physikalischer Sicht ist wichtig zu wissen, dass in einem gespielten/gesungenen Ton, diese ganze Intervallreihe mitschwingt (hier eben z.B., wenn man den Ton C spielen würde). Je nachdem wie laut die einzelnen Naturtöne mitschwingen, ergeben sich andere Klangfarben. Das heisst jedes Instrument oder auch jede menschliche Stimme hat sein eigenes sogenanntes Obertonspektrum.

In folgende Video werden die Obertonspektren visualisiert. Zuerst wird als Vergleich immer die Naturtonreihe als elektronische Sinusklänge mit gleicher Lautstärke (Ausschlag in y-Achse) pro Ton (auf x-Achse) gespielt. Dann folgen jeweils die Obertonspektren des Klaviers, der Gitarre (leider sehr geräuschhaft angeschlagen), des Fagotts, der Tuba, des Cellos, der Timpani ("Kesselpauke") und der Orgel. Man erkennt so einerseits all die Töne der Obertonreihe, welche mit dem gespielten Ton mitklingen und andererseits auch die Lautstärkeunterschiede der Obertöne, je nach Instrument. Diese Unterschiede im Gesamtmix eines Tons sind eben verantwortlich dafür, mit welcher Klangfarbe wir ein Instrument wahrnehmen.

Eine weitere wichtige Rolle spielt die Naturtonreihe bei der Entstehung von Klängen bei Instrumenten mit fixer Länge des Klangkörpers. Vor allem bei Blechblasinstrumenten (und in begrenztem Masse auch bei Holzblasinstrumenten) werden mittels Überblasen diese Naturtöne einzeln angespielt und bilden die Basis an spielbaren Tönen. Simpelstes Beispiel ist das Alphorn (ein Blech-blasinstrument!), welches nur auf diese Naturtonreihe zurückgreifen kann (wäre übrigens ohne die Ventile bei allen Blechblasinstrumenten ebenso der Fall).

Hier werden die Obertöne (Basiston wird leider nicht gespielt) eines Alphorns demonstriert (bei 1:00):

Quellen und weiterführende Literatur/Links